„Zivile Sicherheitspolitik ganz ohne Militär, geht das?“ – diese Frage stand jetzt im Mittelpunkt der 8. Osnabrücker Männervesper im Sprengel Osnabrück. Im Steinwerk der St.-Katharinen-Gemeinde beschrieb Ralf Becker, Koordinator der Initiative „Sicherheit neu denken“ der Evangelischen Landeskirche in Baden, ein Szenario, bei dem bis 2040 ein Ausstieg aus der militärischen Friedenssicherung und ein Umstieg in eine rein zivile Sicherheitspolitik gelingen könnte. Dabei ging er auch auf den aktuellen Krieg in der Ukraine ein. Eingeladen zu der Veranstaltung mit dem hochaktuellen Thema hatten die Männerarbeit im Sprengel Osnabrück mit dem Leitungsteam Pastor Guido Schwegmann-Beisel, Hans-Ulrich Schwarznecker und Wolfgang Asselmeyer sowie der Friedensort Osnabrück mit Meike Jacobs und Pastor Matthias Binder.
Fünf Politikfelder als Pfeiler einer neuen Sicherheitspolitik
Die Vision der Initiative „Sicherheit neu denken“ sei es, dass Deutschland bis zum Jahr 2040 schrittweise umstellt auf eine zivile Sicherheitspolitik. „Es geht um die Überwindung fossiler Konfliktbewältigung, ähnlich wie im Klimabereich“, sagte Ralf Becker. Das Szenario, welches den Weg dorthin beschreibt, beruhe auf fünf Säulen:
- Entwicklung einer starken, resilienten Demokratie, die Krisen zivilisiert bewältigt,
- ökologisch, sozial und wirtschaftlich gerechten Außenbeziehungen,
- Förderung einer nachhaltigen Entwicklung der EU-Anrainerstaaten, insbesondere in den Ländern Afrikas,
- Teilhabe an der internationalen Sicherheitsarchitektur durch Investitionen in eine starke UNO und OSZE-Präsenz,
- Konversion der Bundeswehr zum Technischen Hilfswerk und Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produkte.
Würde Deutschland – gemäß dem 2-Prozent-Ziel der NATO – jährlich statt 70 Milliarden Euro in die Bundeswehr, wie im Szenario vorgeschlagen, jährlich 33 Milliarden Euro in die UNO sowie die OSZE und ihre Institutionen investieren, wäre unserer Sicherheit und dem Frieden nachhaltig gedient, so Becker. „Die UNO wäre auf einen Schlag – budgetmäßig – viermal so wirksam wie bisher, die OSZE sechsmal.“ Becker befürwortete, deutlich mehr in zivile Krisenprävention als in militärische Konfliktbewältigung zu investieren als bisher. Als positives Beispiel nannte er „Peace for Future“, eine junge, wachsende Friedensbewegung, die sich für die Gestaltung und Bildung einer neuen Friedenskultur einsetze und junge Menschen zu Friedensmentor*innen ausbilde.
Gewaltfreier Widerstand doppelt so wirksam wie militärische Aktionen
Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen würden inzwischen belegen, dass die Wirksamkeit von Militäreinsätzen zur Erreichung politischer Ziele relativ gering sei – was auch jeder Laie in Afghanistan, Libyen und im Irak beobachten könne. Auf der anderen Seite bewiesen internationale Studien eine doppelt so hohe Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands zur Beilegung von Konflikten im Vergleich zu gewaltvollen Aufständen und Aktionen. Das Szenario plädiere daher für eine weitere Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO als zunehmend ziviler Akteur. Auf die Frage, wie das gehen solle, NATO-Mitglied bleiben, aber sich nicht an dem militärischen Bündnis beteiligen, welches vorsieht, 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung aufzuwenden, sprach sich Becker für eine Vorreiterrolle Deutschlands aus. „Alle wissen im Grunde, dass wir bisher zu wenig in zivile Krisenbewältigung investiert haben und militärische Lösungen oft keinen dauerhaften Frieden bringen. Deutschland sollte innerhalb der EU, der OSZE, der NATO und der UNO vorangehen und andere Länder davon überzeugen, dass zivile Krisenprävention die nachhaltigere Lösung ist.“
Entschlossene Reaktion und zugleich Signale zur Deeskalation
Die Initiative „Sicherheit neu denken“ hat auch Stellung bezogen zum militärischen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und fordert dessen sofortige Beendigung entsprechend der Resolution der UN-Vollversammlung. So hat die Initiative „Impulse für eine entschlossene und besonnene Reaktion auf Putins Krieg“ veröffentlicht, um Möglichkeiten für zivile Lösungswege aufzuzeigen. Darin wird gefordert, Präsident Putin mit entschlossener Klarheit und Konsequenz und zugleich mit Signalen zur Deeskalation zu begegnen. Sanktionen, so fraglich und ambivalent sie in ihrer Wirkung auch seien, seien dazu das gewaltarme Mittel der Wahl, führte Becker aus. Zusätzlich brauche es neben Signalen der Ge- und Entschlossenheit auch Zeichen zur Deeskalation des Konfliktes. „Kriege sind keine stetigen Abläufe, daher müssen in jeder Phase Möglichkeiten zu Verhandlungen und Dialog mitgedacht werden.“ Im Falle des Ukraine-Kriegs reiche es nicht zu sagen, man sei gegen Russland und für die Ukraine; das Geschehen sei weit komplexer, so Becker. Zum Beispiel beim Thema Korruption, auf das sich eine Frage aus dem Publikum bezog. So gehöre die Ukraine zu den korruptesten Ländern Europas, Bestechung finde sich auf fast jeder Ebene. Ähnlich wie bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Deutschlands Mitgliedschaft in der NATO mit dem 2-Prozent-Ziel des Verteidigungsbündnisses, hatte Ralf Becker auch hier eine mutmachende Antwort: „Wir helfen der Ukraine, indem wir die Mitgliedschaft in der EU in Aussicht stellen. Im Gegenzug erwarten wir, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption ergriffen werden. Hier ist bereits viel Willen zur Veränderung spürbar, nicht nur unter dem Druck des Krieges.“
Anweg zum Ökumenischen Kirchentag in Osnabrück 2023
Die Vorstellung des Szenarios für eine zivile Sicherheitspolitik versteht sich als Anwegveranstaltung im Vorfeld des Ökumenischen Kirchentages, der im Jahr 2023 anlässlich der 375. Jährung des Westfälischen Friedens in Osnabrück und der Region begangen wird. Der Westfälische Frieden sei damals über mehrere Verhandlungsjahre errungen worden, wie Meike Jacobs und Matthias Binder vom Friedensort Osnabrück betonen: „Wir befinden uns jetzt in dem Zeitraum, in dem vor 375 Jahren das ausgehandelt wurde, was dann 1648 als Westfälischer Friede formuliert, weltweit als Verhandlungsfriede bekannt wurde und dem wir im kommenden Jahr nachgehen werden.“ Zugleich sei die Veranstaltung mit der Initiative „Sicherheit neu denken“ eingebettet in die diesjährige Ökumenische FriedensDekade vom 6. bis 16. November, welche unter dem Leitwort „ZUSAMMEN:HALT“ steht. Das Motto könne man auch im Sinne von „zusammen Halt sagen“ auslegen, so Meike Jacobs und Matthias Binder, „Halt zu Putins Krieg und allen anderen kämpferischen Auseinandersetzungen“.